Lise – Atomphysikerin

Charlotte Kerner liest aus der Lebensgeschichte von Lise Meitner

Anlässlich des 50. Todestages Lise Meitners und des  80. Jahrestages ihrer Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland kam die bekannte Jugendbuchautorin Charlotte Kerner nach Neuenhaus und Uelsen, um mit Lesungen und Erzählungen an die Namenspatronin unseres Gymnasiums zu erinnern. Sie zeichnete zunächst das Bild einer wissbegierigen und hartnäckigen jungen Frau, die mit enormem Einsatz ihr Ziel verfolgt, eine Wissenschaftlerin zu werden. Eigenständig muss sie sich auf das Abitur vorbereiten, weil Mädchen der Besuch eines Gymnasiums zu dieser Zeit nicht erlaubt ist. Es folgt das Studium der Physik  - auch dies für Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine absolute Ausnahme -,  die Promotion und der Umzug von Wien nach Berlin. Dort wird sie Professorin, dort bleibt sie 31 Jahre und arbeitet mit den herausragenden Physikern und Chemikern ihrer Zeit zusammen, am intensivsten mit dem Chemiker Otto Hahn. 1934 initiiert sie die Versuche Hahns, die zur Kernspaltung führen. Sie selbst erklärt die Kernspaltung physikalisch. Für diese Forschungen erhält 1944 nicht sie, sondern allein Otto Hahn den Nobelpreis für Chemie. Zu dieser Zeit lebt Lise Meitner bereits im Stockholmer Exil. Weil die Nationalsozialisten sie als Jüdin einstuften und ihr die Lehrerlaubnis entzogen, musste sie ihr Institut und Deutschland 1938 schweren Herzens und Hals über Kopf verlassen. Für ihre wissenschaftlichen Forschungen und Entdeckungen erhält sie nach dem Zweiten Weltkrieg späte Anerkennungen und Ehrungen. Sie nimmt sie mit gemischten Gefühlen entgegen.

Einerseits hält sie an dem Ideal einer freien Wissenschaft fest. So trägt sie 1959 am Bryn-Mawr-College in den Vereinigten Staaten vor: „Stellt nicht die Wissenschaft einen sehr wertvollen Faktor in der Entwicklung des Menschentums dar? Sie erzieht den Menschen zum wunschlosen Streben nach Wahrheit und zur Objektivität, sie lehrt Menschen Tatsachen anzuerkennen, sich wundern und bewundern zu können (…). Doch gleichzeitig weiß sie – spätestens seit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki -  um das Gespenst der schlechten Anwendungsmöglichkeit (Charlotte Kerner), die hinter jeder wunderbaren wissenschaftlichen Leistung lauert. Lise Meitner als Mutter der Atombombe zu bezeichnen, wie es nach Kriegsende manchmal geschah, verdreht nicht nur die historischen Fakten, sondern wird auch dieser beeindruckenden Frau und Wissenschaftlerin in keiner Weise  gerecht: Die Entwicklung der Atombombe mit ihrer alles zerstörenden Kraft hat sie gefürchtet und sich ihr verweigert. Vielmehr hoffte sie auf eine friedliche Nutzung der erschlossenen Energiequelle. Wahrscheinlich stände sie dieser von ihr in den 40-er Jahren geäußerten Hoffnung nach vielen kleinen und großen Unfällen in Atomkraftwerken heute skeptisch gegenüber. Lise Meitner war eben nicht nur eine kluge und unermüdliche Wissenschaftlerin, sondern auch ein sehr reflektierender, (selbst)kritischer und nachdenklicher Mensch. An ihrer optimistischen Einstellung gegenüber der Wissenschaft, der reinen Lehre hält sie weiter fest und betont die aus wissenschaftlichem Denken und Forschen erwachsenden Chancen für eine sittliche Reifung des Einzelnen und eine Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen. In diesem Denken und dem darin angelegten Handeln kann sie uns heute, besonders unserer Schulgemeinschaft Vorbild sein: „(Die Wissenschaft) kann in den Menschen Eigenschaften entwickeln, die ihn besser geeignet machen, sein Verhalten nach ethischen Grundsätzen zu orientieren. Die tiefe Freude an der reinen Erkenntnis kann ihm gewissermaßen größere und richtigere Maßstäbe gegenüber allem Geschehen geben und ihn vor kleinlicher Einseitigkeit schützen.“  (Lise Meitner 1959 – Vorlesung am Bryn-Mawr-College: Wunschloses Streben nach Wahrheit)

Die Lesungen an unserer Schule wurden umrahmt von Schüleraktivitäten rund um Lise Meitner. Sechstklässler aus Uelsen und Neuenhaus stellten dem abendlichen Publikum ihre Ergebnisse aus der Beschäftigung mit der jüdischen Kultur und Religion kenntnisreich vor. Der Kunst-Kurs ku6 des Jahrgangs 12 präsentierte eine phantasievolle, alle Grenzen der Zeit großzügig hinwegwischende Foto-Collage: Lise und Otto bei der Vorbereitung der Schüler auf das Abitur 2019.   (bri)